Der 18. Geburtstag ist etwas Besonderes. Mit der Volljährigkeit bekommt das Leben quasi einen neuen Status – mit allen Rechten und Pflichten, die für Erwachsene gemeinhin gelten. Auch Anne Hofmann befindet sich demnächst in diesem Lebensabschnitt. Sie wird sich jedoch nicht im gleichen Maße wie andere Heranwachsende von ihren Eltern abnabeln können. Denn die versorgen sie seit ihrer Geburt Tag und Nacht und können die schwerbehinderte junge Frau bis heute nicht allein lassen.
Was ist bloß mit unserem Nesthäkchen los?
Als Säugling unterschied sich Anne nicht von anderen Kindern ihres Alters. Dann jedoch entwickelte sich das Mädchen irgendwie nicht weiter: Sie konnte sich weder drehen noch mit den Händen greifen. Hinzu kamen Probleme mit den Augen. Der Kinderarzt war ratlos und schickte die Eltern zu einem Kollegen. An der Uniklinik Tübingen stellte man schließlich fest, dass in Annes Körper eine Substanz namens „Myelin“ fehlt. Diese Membran umhüllt die Nervenfasern im Gehirn und leitet Reize weiter. Warum sie bei Anne fehlt und was nun zu tun sei, das wusste zunächst niemand. Damals war Anne ein Jahr alt. In den Spielgruppen, zu denen ihre Mutter mit ihr ging, wurde der Abstand zur Entwicklung der anderen Kinder immer deutlicher.
Nun lief, wie Ursula Hofmann es ausdrückt, die „medizinische Maschinerie“ an: Chromosomen wurden analysiert, der Stoffwechsel untersucht und auch die Humangenetik schaltete sich ein – auf Wunsch der Eltern. Denn die trieb noch eine andere Sorge um. Sie wollten wissen, ob die Ursache für Annes Behinderung in irgendeiner Weise auch deren Geschwister betreffen könnte. Als die Familie endlich eine Diagnose erhielt, war Anne 14 Jahre alt. Sie hat einen sehr seltenen Gendefekt mit dem Namen „Pelicaeus-Merzbacher PLP1“.
Schwierige Zeiten und schwere Entscheidungen
Der Alltag der Familie musste sich immer wieder neu sortieren und war nicht selten von Hilflosigkeit und Ungewissheit geprägt. Anne hatte immer wieder Infekte, wurde am Magen und an der Speiseröhre operiert und musste zeitweise sogar beatmet werden. Ihre Mutter erinnert sich: „Es gab eine Zeit, da war ich fast nur in der Klinik und mein Mann musste den Laden mithilfe der Oma und den anderen drei Kindern am Laufen halten. Da war Anne so etwa zwölf und es war nicht klar, ob sie das überlebt. Das stresst eine Familie natürlich extrem.“
Mit ihrem Lachen und ihrer Fröhlichkeit gab Anne ihrer Mutter in dieser Zeit viel Kraft zurück. Die Zwänge des Alltags musste die Angestellte einer großen Klinik letztlich dennoch anerkennen. Für die leitende Hebamme war von Anfang an klar, dass sie nach der Elternzeit wieder arbeiten gehen würde. Keinen Moment hätte sie früher daran gedacht, ihren Beruf aufzugeben. Doch die Behandlungen und Therapien ihrer Tochter erforderten Zeit. Und eine Möglichkeit, Anne auch nur für ein paar Stunden am Tag anderweitig betreuen zu lassen, gab es nicht. Also ließ sich Ursula Hofmann von ihrem Arbeitgeber beurlauben. Zunächst für ein Jahr, dann für ein weiteres und für noch eines. Nach sieben Jahren musste sie sich entscheiden. Eine wirkliche Wahl hatte sie nicht. Sie kündigte. Dieser Schritt fiel ihr schwer: „Ich war erstmals familienversichert. Für mich war das ein Bruch in meiner Erwerbsbiografie. Manche lächeln darüber, aber ich war Hebamme und davon überzeugt, dass sich Beruf und Kinder vereinbaren lassen. Ich wollte autonom bleiben.“
Ohne viel Mut und Selbsthilfe geht es nicht
Diese ersten Jahre waren für die Eltern überaus belastend; zumal die Familie noch immer keine Diagnose hatte und nicht wusste, was sie noch erwartete. Hilfe und Unterstützung musste sich Ursula Hofmann mühsam erfragen, von manchen Fördermöglichkeiten erfuhr sie nur durch Zufall. So etwas wie ein Fallmanagement, bei dem relevante Informationen koordiniert vermittelt werden, gab es nicht.
In der Auseinandersetzung mit Krankenkassen und Behörden war die Familie meist auf sich allein gestellt. Doch die resolute Mutter wusste sich durchzusetzen. Gegen einen zu niedrig bemessenen Grad der Behinderung (GdB) legte sie erfolgreich Widerspruch ein. Statt GdB 50 erhielt ihre Tochter daraufhin GdB 80. Eine Pflegestufe für Anne wurde zunächst komplett abgelehnt – trotz eines Attestes vom Kinderarzt und diverser Bescheinigungen. Dann wurde für die Zweijährige „aus Kulanz“ Pflegestufe 1 genehmigt. Nach einigem Hin und Her erhielt sie schließlich die ihr zustehende höchste Pflegestufe (heute Pflegegrad 5).
Ohne die Unterstützung durch „ihre“ Selbsthilfegruppe wäre Ursula Hofmann damals wie heute verloren gewesen. Von Beginn an steht sie dem Verein „Rückenwind“ vor und will dabei helfen, Mütter behinderter Kinder zu stärken. Aus eigener Erfahrung weiß sie, dass für eine Rückkehr in den Job oftmals einfach die Rahmenbedingungen fehlen: „Wir haben in unserem Verein einige alleinerziehende Frauen, die ihr behindertes Kind rund um die Uhr versorgen müssen und mittlerweile Hartz IV erhalten. Das ist bitter. Das versteht das Jobcenter aber oft nicht. Da spielt Behinderung keine Rolle, es geht um Verfügbarkeit.“
Keine Berufstätigkeit ohne eine Betreuung des Kindes
Von der Politik fühlen sich viele Mütter und Väter des Elternvereins „Rückenwind“ im Stich gelassen. Überall in den Kommunen werden zwar Alten- und Pflegeheime gebaut, aber im großen Landkreis Esslingen gibt es kein Angebot zur Kurzzeitpflege für Kinder. Gerade das aber fände Ursula Hofmann wichtig, „damit die Familie vielleicht auch mal ohne Rollstuhl, Monitor und Beatmungsgerät Ferien machen kann.“ Die Geschwisterkinder und das Elternpaar gebe es ja schließlich auch noch. Sich an einen der vorhandenen Pflegestützpunkte zu wenden ist meist aussichtslos, da man Kinder mit Behinderungen hier ebenfalls nicht auf dem Schirm hat.
Sicherlich gibt es auch ganz individuelle Gründe, warum pflegende Mütter oder Väter nicht zurück in den Job finden. Klar ist aber, dass sich kaum jemand überhaupt erst auf eine Stelle bewerben wird, ohne eine verlässliche Betreuung für sein Kind zu haben – vor allem in den Schulferien. Und genau daran fehlt es. Das ist laut Ursula Hofmann der „Wiedereinstiegsverhinderer“ Nummer eins.
Eine Berufstätigkeit ist für pflegende Eltern dabei nicht immer nur in finanzieller Hinsicht wichtig. Es geht längst auch um die Anerkennung von Leistung und um gesellschaftliche Teilhabe. Durchaus öfter hat Ursula Hofmann gesagt bekommen: „Du hast doch schon genug am Hals! Willst du denn da wirklich noch arbeiten gehen?“
Ja, das will sie. Denn sie möchte auch aufgrund ihres Wissens gefragt sein und nicht allein als pflegende Mutter. Sie möchte beruflich etwas leisten, sich mit Kolleginnen und Kollegen austauschen und sich darauf freuen, abends wieder ihre Tochter zu betreuen. Das, erklärt die 58-Jährige, sei für sie elementar: „Man ist sonst isoliert und lebt in einer Parallelgesellschaft. Pflegende Mütter sind dann die Exoten, die kaum Zeit für andere Dinge haben.“
Ursula Hofmann nimmt sich Zeit für Dinge, die ihr wichtig sind. Sie spielt regelmäßig in einem Orchester, engagiert sich im Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e. V. und wurde gerade erst als Stadträtin in den Gemeinderat der Stadt Esslingen gewählt. Ein Exot will sie als pflegende Mutter nicht sein. Sie möchte nicht exklusiv leben, sondern inklusiv.
Mehr Informationen über die Arbeit und die Ziele des Vereins „Rückenwind – pflegende Mütter behinderter Kinder stärken!“ finden Sie unter: www.rueckenwind-es.de.
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